Halle den 2ten Juny 08.

Seien Sie nicht ungehalten, mein theuerster Schleiermacher daß Sie Ihre Bücher und   Vgl. Brief 2692, 12 – 20.  [Schließen]Effekten später bekommen als ich es wohl gewünscht hätte. Es war des Zögerns kein Ende mit den Schiffern. Auch muß ich Sie wegen der Mühe um Verzeihung bitten die es Ihnen machen wird die Harscherschen Sachen von den Ihrigen zu sondern, ich konnte mich aber unmöglich entschließen für die wenigen Bücher eine eigene Kiste machen zu lassen. Endlich muß ich auch noch einer Untreue gedenken die ich mir beim Einpacken habe zu Schulden kommen lassen. In der ZwischenZeit nehmlich da mir einige Bücher von Harscher aus meiner Wohnung gehohlt wurden, blätterte ich zufällig in  Friedrich Schleiermacher: „Brief bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter“ (1799, KGA I/2, S. 327-361) [Schließen] einer kleinen Broschüre und entdeckte Sie auf der ersten Seite der Briefe in Sachen der Jüdischen Hausväter , von deren Existenz ich nichts wußte und beschloß zugleich mir eins von denen über die Gebühr vielen vorhandenen Exemplaren zuzueignen. Sie werden vielleicht mit der etwas hohen Fracht unzufrieden sein, sie beträgt nehmlich 12 r die Leute bewiesen mir aber gegen meine aus dem Transporte meiner Sachen gezogene Argumente, daß die Fracht von Berlin hierher immer wohlfeiler sein müßte weil sie dort nie auf Ladung | 26v rechnen könnten. Der Kahn ist vorgestern abgegangen.  wohl Heinrich Balthasar Wagnitz [Schließen] Wagnitz mag sehen wie er sich gegen Sie entschuldigt daß er Ihnen zumuthet ein Schächtelchen mit Rattengift an die verwitwete  Wilhelmine Caroline Pischon [Schließen] Pischon zuzustellen. – Wenn Sie wie ich hoffe Harscher oft sehen, so bitten Sie ihn doch mir bald einmal wieder zu schreiben; über die noch fehlenden 2 Bände der  Christian Joseph Jagemann: „Italiänische Chrestomathie aus den Werken der besten Prosaisten und Dichter“ (1794-1796) [Schließen] Jagemannschen Chrestomathie solle er ruhig sein, ich habe sie beim Einpacken vergessen, der nächste Kahn wird sie ihm bringen. –  Friedrich Schleiermacher: „Predigten. Zweite Sammlung“ (1808) [Schließen]Tausend Dank für die Predigten, worin ich großentheils die alten Freunde mit wenigen bedeutenden Abänderungen wieder erkannt habe, und die ich mit vieler Zerknirschung da wo wir in der Wahl der Texte zusammengetroffen sind gelesen habe. Eines Gefühls habe ich mich dabei doch nicht erwehren können, und habe es auch von andern dunkel andeuten gehört, daß nehmlich  Friedrich Schleiermacher: „Predigten. Erste Sammlung“ (1801) [Schließen]die erste Sammlung durch Reiz der nie gehörten Neuheit, und darauf erfolgten langen Umgang, sich in mir zu einem so abgeschlossenen und in sich so vollständigen Ganzen gebildet hatte daß es einige Zeit und Mühe kosten wird ehe die neuen Predigten in diesen Kreis werden aufgenommen werden können. Und wer weis ob dies jemals ganz der Fall sein wird. Denn täuscht nicht ein zu unreifes erstes Lesen, so unterscheiden sie sich von den frühern nicht etwa blos durch allgemein herrschende Beziehungen auf äußere | 27 Verhältnisse, was ja doch eine durchaus ähnliche Behandlung zuließe, sondern die akademischen nicht mehr als die andern, alle sind ernsterer strengerer und daher gewis vielen, schwererer Art. Sie möchten sich also wohl zu den früheren ebenso verhalten, wie etwa die Zusätze zu den Reden und manche darin veränderte Stelle zu den älteren Reden. Sie sehen daß ich kek bin, weisen Sie mich zu rechte, denn ich muß es hier nur aufrichtig gestehen, nachdem ich die 2 Ausgaben diplomatisch verglichen, und gewis der herrlichen dialektischen Strenge der letzten, ihr gebührendes Recht zukommen lasse, daß ich doch glaube, daß[,] ist gleich das Werk gleichsam einen Schritt mit der Zeit weiterfortgerükt, ist gleich vieles darin jetzt deutlicher in Worten gesagt, so haben doch die Reden verlohren, wenn nicht an ihrem Glanze, denn den wollten Sie ja zum Theil verwischen, doch aber an Harmonie und Gleichheit des Colorits. Oder um vielleicht besser zu sagen was ich meine: es scheinen mir die früheren Reden jugendlicher, die zweiten männlicher daher auch minder schön . Hiervon dürfte ich wohl vieles nicht auf die 2 Predigt Samlungen anwenden besonders nicht den Unterschied der Jugend und des Alters, nur ein Uebergewicht des Dialektischen zeigt sich hier, und das wird, wie die Erfahrung leider zeigt, alles dessen zum Trotz was Sie oft wohl, mir einleuchtend und unwiderleglich, davon gesagt haben, nie die Sache des gewöhnlichen Zuhörers oder Lesers werden.  Seit ein Paar Tagen habe ich die | 27v   Predigten des Johannes Tauler (um 1300 -1361), eine spätmittelalterliche Quelle [Schließen] Taulerschen Predigten, habe aber noch zu wenig davon gelesen um etwas davon zu sagen. Sie kennen sie doch wahrscheinlich? Steffens hatte mich darauf aufmerksam gemacht. Das haben Sie schön gemacht daß Sie wieder wie unsereins geworden sind und zwar wie ich fürchte ganz und gar das heißt ein gehaltloser Prediger. Lassen Sie Sich nur durch diese AmtsGeschäfte nicht abhalten nach Dessau zu kommen wozu Reimer, den ich leider nur eine halbe Stunde gesehen habe, um mich über sein auffallendes Wohlaussehn zu freuen, Hofnung gemacht hat. Eine Reise dahin wäre auch das Höchste was ich erschwingen könnte, an weitere Ausflüge ist nicht zu denken. Die  lat.= ärmlicher Hausrat [Schließen]curta supellex bei noch immer ausbleibendem Gehalt hat mich wieder genöthigt eine Menge Studenten anzunehmen so daß meine Zeit sehr beschränkt ist ohne daß sich meine Finanzen besonders wohl dabei befänden. Zum Unglük ist   Wilhelm Christian Goßler, Präfekt des Departements der Saale  [Schließen]unser Präfect auf 5 bis 6 Wochen nach Cassel berufen und ich fürchte er wird dort soviel Geschäfte finden daß er weniger für uns wird thun können als er es wohl hier gekonnt hätte. Sie sehen aus diesem Beispiel wie weit wir noch von einer festen Ordnung der Dinge entfernt sind und von dem Zwange zur Liebe wovon Anfangs der Regierung gesprochen wurde möchte sich die Wirkung auch bei denen am leichtesten zu befriedigenden, und das Heil der Welt von den neuen Machthabern erwartenden, wohl noch wenig verspüren lassen. Die Anwe | 28senheit  Jerôme Bonaparte, König von Westphalen [Schließen] Sr. Majestät wird dazu auch nicht besonders beigetragen haben, denn 9 Pferde zwischen hier und Bernburg todtjagen, wie man sagt, und die Bauern dazu mishandeln, ist wenigstens eine neue Art captatio benevolentiae. Der König ist nun zwar hier gewesen weshalb aber und zu welchem Nutze möchte schwer zu errathen sein. Er wohnte bei Niemeier, kam des Morgens gegen Zehn Uhr an, empfing in der größten Eil die Universität, Tribunal, Geistlichkeit, Magistrat sah elend und düster aus, sprach wenig und eben nicht geläufig, aß ganz allein, ging mit dem  August Hermann Niemeyer [Schließen] Kanzler zu Fuß auf das Waisenhaus und Pädagogium (am letzten Orte wurde ihm auf Befehl des Kanzlers ein vivat gebracht, auf dem Waisenhause unterblieb es weil die Knaben sich geweigert hatten) hielt sich in den beiden Orten nicht eine 1/4 Stunde auf, fuhr zum Klausthor hinaus wo die   Salinenarbeiter in Halle  [Schließen]Halloren in der Eil ein Paarmal ins Wasser sprangen, was man ein FischerStechen nannte, und fuhr darauf denselben Tag noch nach Nordhausen. Der Präfect mit einigen Gutsbesitzern war ihm bis an die Gränze des Distrikts entgegengeritten, in Trota empfing ihn eine sehr wohl gekleidete und wohl berittene EhrenGarde von Bürgern der Stadt, an den Thoren selbst der Magistrat mit einer Garde zu Fuß. Im Niemeierschen Hause wurden ihm von einigen jungen Mädchen Blumen gestreut und eine verunglükte Anrede gehalten, dann wie schon gesagt wurden wir alle, die wir seit 7 Uhr des Morgens in ein kleines Stübchen,  Anspielung auf die Einsperrung von etlichen Engländern in einem sehr kleinen Verließ nach dem Verlust der Festung von Kalkutta durch ein muslimisches Heer 1756 [Schließen] wie die Engländer in Calkutta ein | 28vgesperrt gewesen waren, in der größten Eil und ziemlich tumultuarisch präsentirt. J. Müller war schon in der Nacht angekommen und durch die Nachlässigkeit seiner Leute, und einer kaum zu verkennenden liebenswürdigen aisance womit das Kammerherrn Geschmeis mit ihm umgieng, so übel besorgt, daß er mit einer Tasse Thee zu Nacht aß, kaum 3 Stunden schlief, und den Mittag nur mit Mühe etwas Bouillon aus einem Speisehause erhielt. Die Universität, besonders die medizinische Fakultät ging noch vor der Ankunft des Königs zu ihm, das Nähere wird  korr. v. Hg. aus: ihnenIhnen Steffens besser sagen können nur das weiß ich daß Reil sich bitter beklagt daß man ohne Vorwissen der Fakultät den Dr Senf zum   lies: professor extraordinarius  [Schließen]professor. extraordinarius mit 200 r. Gehalt angestellt hat, worauf ihm Müller die Versicherung gegeben daß dieser Mensch wenigstens nie in die Fakultät kommen sollte. – Auf die Gefahr daß Sie vielleicht schon längst besser berichtet sein könnten muß ich Ihnen noch einiges von der neuen Universität sagen. Die Feierlichkeit der Wiedereröfnung geschah den 16ten auf der Wage.  Es handelt sich wohl um Christian Gottfried Schütz.  [Schließen] Schütz hielt dabei eine Rede von einer guten Stunde deren erster Theil den allgemeinsten Beifall wegen freimüthiger und derber Erwähnung der Zeitumstände, der Wohlthaten des  Friedrich Wilhelm III. [Schließen] vorigen Regenten &c fand, der 2te Theil aber von ermüdender Länge, eine Menge Studien- und LebensRegeln für die neuen cives academiae enthielt. Daß übrigens die gehörigen Geschichtchen, z B. von Diogenes und Alexander ,   Anspielung auf eine in Markus Fabius QuintilianusInstitutio oratoria“ (6. Buch, 3. Kapitel: „Über das Lachen“) überlieferte Anekdote von Pyrhus und den tarentinischen Jünglingen.  [Schließen]von Pyrrhus und den Tarentinischen Jünglingen, nicht fehlten versteht sich | 29 von selbst. Dann ernannten die verschiedenen Dekane der Fakultäten die neuen Doktoren, die theologische unter andern Senf,  möglicherweise Georg Christian Erhard Westphal [Schließen] Westphal und Dohlhoff, die medizinische einen jungen Hänert wobei Reil etwas über Schlafen, Wachen und Träumen erzählte, und der neue Doktor eine in wahrem Küchen Latein abgefaßte Anrede an die Universität und Studenten hielt. Niemeier beschloß mit frommen Wünschen und einer pathetischen prosopopoie an den seeligen Nösselt. Dann gabs ein Diner und einen Ball auf dem Kronprinzen. Uebrigens mögen sich bis jetzt ungefähr 150 Studenten eingefunden haben wovon wohl 40 alte sein mögen, man weis noch gar nichts von ihnen, kaum daß sie da sind. Die Universität hat wie Sie wissen werden 3 Monate ausgezahlt bekommen, für Erhaltung und Unterstützung der Institute aber kann Niemeier nichts ausrichten. So liegt auch die Sache wegen Combination der Gymnasien auf dem Waisenhaus weil noch immer kein Fonds angewiesen werde und ohne diese muß alles zu Grunde gehen. Das Pädagogium von 80 auf 40 Schüler herabgekommen steht ebenfalls auf sehr schwachen Füßen und hat noch im letzten Vierteljahr 1500 r. zugesetzt. Eben so mislich steht es um die so lange besprochene  Bei der Kirchenvereinigung handelt es sich um die deutsch-reformierte und französisch-reformierte Gemeinde. [Schließen]KirchenVereinigung, ich habe alle Mühe Dohlhoff begreiflich zu machen daß wenn man auch dem Staate keine liberalen Gesinnungen zutrauen kann, man es doch durchaus nicht unversucht lassen müsse weil alsdann das schwache Gehalt des 3ten Predigers ganz verlohren gehen wird. | 29v Wir sind doch nun soweit daß noch diese Woche der erste Versuch gemacht werden soll die Häupter der beiden Gemeinen zu vereinigen, worauf ich vom Presbyterio zum Prediger erwählt und als dann die ganze Sache der Regierung zur Bestätigung vorgelegt werden soll. Ich kann mich aber bei der ganzen Sache einer bösen Vorbedeutung nicht erwehren, wenigstens sehe ich manchen unerfreulichen Auftritten entgegen. – Rienäcker hat am 15ten dieses seine AntritsPredigt gehalten, die Predigt selbst hat mir sehr gut gefallen, desto weniger sein Aeußeres,  korr. v. Hg. aus: eser spricht entsetzlich rasch und hat eine so fehlerhafte ganz falsche Gestikulation die noch dazu so häufig und lebhaft ist daß ich ihm kein ander Mittel dagegen anzurathen wußte als sich aller Bewegungen gänzlich zu enthalten bis der Drang der Rede sie wieder herbeiführen wird wo sie dann doch unmöglich so falsch ausfallen kann.

Diesmal hoffe ich sollen Sie mit Ihrem Hallischen unpartheischen Correspondenten von Staats- und Gelehrten Sachen zufrieden sein, machen Sie nur daß auch er sich Ihrer Worte bald wieder erfreue. Haben Sie denn gar nichts tröstliches von Berlin und der  Mark Brandenburg [Schließen] Mark zu schreiben, wäre es auch nur was eben für das trostloseste gehalten wird und doch wahrlich am Ende wieder das rathsamste werden wird: una salus victis &c. Was ich bisher gehört habe klingt gar jämmerlich.

Ich wünsche nichts sehnlicher als Sie bald einmal wiederzusehen, möchte es doch in Dessau und bald geschehen. Dolhoff läßt Ihnen viele herzliche Grüße sagen, die meinigen an die gute  Anne (Nanny) Schleiermacher  [Schließen] Nanny von deren Nachrichten mir zuweilen ein Wörtchen wieder erzählt wird. Leben Sie wohl

Blanc

Zitierhinweis

2731: Von Ludwig Gottfried Blanc. Halle, Donnerstag, 2. 6. 1808, ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0006560 (Stand: 26.7.2022)

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