Herrn / Doctor Schleiermacher / Berlin. [Autorfußnote Bl. 9]

Bremen den 31 Jan 10.

Ist es denn wirklich so, dass ich mich immer einen der Ihrigen nennen darf, mein treuer Lehrer und Freund und ist es nicht zu viel verlangt, dass Sie mich in die einzelnen Parthieen meines Lebens mit Ihren Wünschen und Einsichten begleiten sollen, so lassen Sie mich das Bekenntniss einer Unternehmung machen, die entweder zu einer raschen Ausführung oder einer baldigen Erstikkung gelangen muss. Es ist keine Muthlosigkeit, oder flüchtig gefasste Ansicht, wenn ich Ihnen versichere, dass mein einmal betretenes praktisches Leben lange, sehr lange brauchen wird, ehe es hier über seine ersten Versuche hinauskommen wird. Erlassen Sie mir die detaillirten Gründe dafür. Nur soviel: Ich stehe hier, als der lezte von einer ganzen Reihe junger Aerzte; ohne Verwandtschaft; die älteren Aerzte interessiren sich für ganz andere junge Personen, und – zwei Männer, von denen ich alles erwarten durfte  | 8v leben nicht mehr, der lezte starb ganz kürzlich, ein ganz herrlicher Mann. Nun habe ich die angenehme Aussicht, ein halbes Dutzend Jahre in weniger, als halber Geschäftigkeit hinzuwarten. Was ist schreklicher, als dies thatenlose Warten, stets mit dem Gefühl des Mislingens beschäftigt; eine rechte Strafe für früheren Übermuth als mir manches über Erwarten gelang. Dies überlege ich mehreremal und auch neulich, als mir unerwarteter Weise Anerbieten nach Rusland gemacht werden, bei denen ich meine Kentnisse vermehren und auch selbst meinen Unterhalt erwerben kann die mir eine thatenreiche Anwendung der besten Jahre und vielleicht eine lohnende Aussicht in Deutschland versprechen. Doch will ich mich erst noch besser versichern, besonders davon, nicht nach Sibirien oder in eine russisch-türkische Armee geschikt zu werden, welches gleichsam ein Verschwinden aus aller sittlichen Welt und ein betrübter Gedanke für meine Angehörigen sein würde. Ich schrieb deswegen an meinen reinsten Freund Fischer und bitte Sie, den Brief so schnell als möglich durch Gelegenheit, (wenn Ihnen eine solche bekannt) oder zur Post weiter zu senden. – – Sie bitte ich nun aber recht sehr und dringend, mir unpartheiisch,  | 9 wie sie es hier nicht vermögen, zu sagen, was Sie zu dergleichen Absichten denken. Sie wissen, da Sie meine Richtungen vielleicht besser beobachtet haben, als ich dies erwartete, was ich durch einen solchen Wechsel gewinne, oder verliere; wägen Sie mir das selbst vor und, wenn es möglich, nehmen Sie mir meine Unruhe, die mir nicht erlaubt etwas Rechtes zu unternehmen. Anfangs wollte ich den flüchtigen Gedanken niederarbeiten ich unternahm die Anordnung von meines Vaters recht hübschem Naturalienkabinett, literarische Beschäftigungen und dergleichen. Der Gedanke, meine Vaterstadt zu verlassen winkt mir aber immer wieder zu und etwas Dämonisches muss sicherlich in ihm liegen.

Da haben Sie wieder ein Bild, aber kein erfreuliches, Vgl. Brief 3369. [Schließen] wie Ihr lezter Brief sie mir mitbrachte mit freundlichen Köpfen und schöner Familieneintracht.

Ihr Ad Müller.

Zitierhinweis

3391: Von Adolph Müller. Bremen, Mittwoch, 31. 1. 1810, ediert von Sarah Schmidt und Simon Gerber. In: schleiermacher digital / Briefe, hg. v. Simon Gerber und Sarah Schmidt. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin. URL: https://schleiermacher-digital.de/S0007220 (Stand: 26.7.2022)

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